21. Mai 2012_ Duderstadt. Heller Sandstein, rotes Fachwerk, mit Schnitzereien veredelte Eichensäulen tragen die Überdachung des Seitenaufgangs, schieferverkleidete Türme ragen in den Himmel, ein rotes Ziegeldach setzt dem Bauwerk die Krone auf. So steht es da, das Duderstädter Rathaus. Ein Bilderbuch-Rathaus ist es, für Touristen aus aller Welt und jeden Bürger dieser Stadt mit 14 Ortsteilen und etwa 22.000 Einwohnern.
Wer an diesem Ort den Verwaltungssitz vermutet, der irrt. Er ist seit den 1970er Jahren im Stadthaus untergebracht. „Das Rathaus ist Bürger- und Gästehaus“, sagt Bürgermeister Wolfgang Nolte, der das Gebäude zur ersten Anlaufstation gemacht hat. In dem Fachwerkbau, dessen elegante Verzimmerung gleichermaßen Aushängeschild und Vorbild der Fachwerkstadt ist, sind Tourist-Information, Standesamt, Bürgersaal und Stadtbibliothek untergebracht. Alljährlich lockt es tausende Besucher an, und darum nennt der Bürgermeister das Rathaus zurecht „einen Leuchtturm“, umgeben von Fachwerkhäusern, Kirchen, Toren, Türmen und Wallanlage am grünen Band in der Region Südharz.
Tatsächlich ist das Rathaus das „soziale Gedächtnis“ der Stadt und Symbol einer Zeit, in der die Macht von Kirche und Adel zu schwinden begann, Bürger in einer Rathausblick„Freien Stadt“ lebten und sich ihr Leben ganz nah am und im Rathaus abspielte. Dass die Bürger Duderstadts ihrem Rathaus jetzt vielleicht näher als jemals zuvor, haben sie auch ihrem Bürgermeister zu verdanken. Er war es, der bereits vor 25 Jahren als Stadtdirektor auf ein modernes Nutzungskonzept im historischen Gebäude drängte. Seit 2001 ist er Bürgermeister, und jetzt ist sein Plan Wirklichkeit geworden: auf 1250 Quadratmetern wird Stadtgeschichte präsentiert. Moderne Schaukästen und Zeitleisten vermitteln Zahlen und Fakten, die Beleuchtung verbindet spielerisch und unaufdringlich Information mit imposantem Fachwerk. Die Texte sind kurz und mehrsprachig gehalten, barrierefrei ist das zweite Obergeschoss zu erreichen und wer die letzten Treppen bis unters Dach nimmt, der blickt aus 22 Metern Höhe auf die Stadt und weit darüber hinaus.
Einst waren darunter Markthalle, Gerichtshalle, Ratsstube und Festsaal, im Keller der Kerker, außen Pranger und Schandpfahl. Daran hätten Stadtväter und Denkmalschützer im Jahr 2000 sicher gern den Einen oder Anderen gebunden, standen sie schließlich selbst am öffentlichen Pranger, wegen einer misslungenen Sanierung in den 1980er Jahren. Damals sollte saniert und umgebaut werden, doch die dringend notwendige Sanierung wurde nur ungenügend ausgeführt, das führte zu massiven Schäden, die zutage kamen, als die Fassade für den 700. Geburtstag der Schützengilde einen Anstrich erhalten sollte. Stabil scheinende Holzbalken ließen sich wie Pappmaschee eindrücken, Stadt und Bürgern drohte neben dem Verlust des Kulturgutes ein finanzielles Desaster, das ohne großzügige Förderung kaum abwendbar gewesen wäre.
Rückblick: 8,5 Millionen DM kosten Umbau- und Sanierungsarbeiten von 1982 bis 1987, die mit dem Anstreichen der Fassade enden, wo später massive Schäden auftreten. „Duderstadt im Denkmal-Schock“, formuliert es die Presse. Stadtdirektor Wolfgang Nolte, spricht sich für eine „umfassende Fehleranalyse“ aus, ein schmerzvoller Lernprozess beginnt. Politische, finanzielle und planerische Hürden stehen bevor, das Rathaus ist an einigen Stellen einsturzgefährdet, wird dort buchstäblich nur noch von der Farbe zusammen gehalten. In den Jahren 2000 bis 2008 wird erneut saniert, Kosten: knapp 4,5 Millionen Euro. Die Grundlage für eine Innensanierung, die weitere 3 Millionen Euro von 2010 bis 2012 kostet, ist geschaffen.
Von den Schäden und Mengeln ist im Mai 2012, 11,6 Millionen Euro und 14 Prozent Eigenanteil säpter, nichts mehr zu sehen. Heute präsentiert sich auf massivem Sandstein ein ochsenblut-rotes, prächtiges Fachwerk mit weißen Gefachen, gekrönt von drei Spitztürmen, drei Zwerchhäusern und sechs Verkünderkern. Wenn der Himmel blau ist über Duderstadt und die Sonne direkt über einem der ältesten Rathäuser Deutschlands scheint, ist dessen Schönheit beinahe unwirklich. „Dieses Fachwerkhaus ist ein Zeichen von Baukunst und Stärke und kann die Bürger emotional binden“, da ist sich der Bürgermeister sicher. Er stieß an seinem 65. Geburtstag Mitte Mai auch auf den zurückliegenden Kraftakt aller Beteiligten und Bürger an, bevor er einige Gäste selbst durch das 800 Jahre alte Bauwerk führte. Im Turm, wo der Blick über die Dächer der Stadt zum Westerturm und bis ins Eichsfeld reicht, kam er ins Schwärmen. „Wie großartig das hier ist“, sagte Nolte dort oben und strich über die grauen Natursteine der Gefache. Sein Blick zog sich entlang der braunschwarzen Eichenhölzer, er atmetet den Geruch von Holz tief ein, dessen Kanten vor hunderten von Jahren mit dem Breitbeil bearbeitet worden waren.
Säulen, Streben, Sparren und Steine vermitteln die Geschichte eines Hauses, das seinen Ursprung in der Mitte des 12. Jahrhunderts hat. Seitenansicht1302 wurde mit dem „Kophus“ eine der ersten Markthallen und darüber ein Festsaal gebaut. Seit 1432 gibt ihm die Verzimmerung sein heutiges Gesicht. Nach Entwürfen aus dem Jahr 1528 sollte es ein „Gesamtkunstwerk“ werden, bei dem vorhandene Bauteile verschiedener Epochen sichtbar zusammenspielen. „Das ist hier in hervorragender Weise gelungen“ so Prof. Manfred Gerner, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Fachwerkstädte e. V., der bei einigen Sanierungsarbeiten der letzten Jahrzehnte seine Fachkompetenz mit einbrachte.
Der Professor weiß noch genau, wo historische Bausubstanz zerstört wurde, weil die Altschäden nicht beseitigt, sondern zugespachtelt wurden. In einer Dokumentation über „die Sanierung der Sanierung“ hielt er das fest. Mit Unterstützung von Stadt und Architekten, damit „es andere bei der Bewältigung ähnlicher Probleme leichter haben“, wie er sagte. Für all das gab es viel Lob, an die Beteiligten Firmen, Architekten, Fachleute, Ministerien und den Ehrenbürger und Förderer seiner Heimatstadt, Prof. Hans Georg Näder. Allein durch ihn und das Duderstädter Weltunternehmen Otto Bock HealthsCare wurde die Stadt weltweit als mittelalterliche Fachwerkstadt in Deutschlands Mitte bekannt. Das bekommen auch die Bürger der Stadt zu spüren, wenn die Touristen durch ihre Straßen schlendern, die vielen historischen Häuser fotografiert und bestaunt werden. Das Rathaus lockt sie an, vereint das Historische, den Kern, den Sinn dieses Platzes, ja sogar das Selbstbewusstsein der Duderstädter unter einem Dach. Und wenn über diesem die Nacht hereingebrochen ist, dann verlassen die Großen Mausohren zu Hunderten ihren Schlafplatz, den die geschützte Fledermausart unter dem Rathausdach hat und fliegen um die Dächer der Altstadt. Wer sie dabei nicht sehen kann, dem bietet eine Videoinstallation den Einblick in das Schlafzimmer der Rathaus-Fledermäuse. Diskret, unaufdringlich und dennoch eindrucksvoll. Auch hier hat sich der Wunsch der Planer des 16. Jahrhunderts erfüllt: Das Rathaus – ein Gesamtkunstwerk.