April 2011 Fulda_Zimmermeister Dorji beugt breitbeinig über einem Stamm aus Kiefernholz. Barfuss steht er auf einer Schicht von groben Holzspänen und bearbeitet mit dem scharfen Breitbeil die vier Seiten des Balkens, der später als Ecksäule im Fachwerkhaus in Bumtangtal eingebaut werden soll. Das glatte Bauholz glänzt in der Sonne, als wäre es gerade mit einer modernen Hobelmaschine bearbeitet worden. Ist es aber nicht.
„In Bhutan wird heute noch so gearbeitet, wie bei uns vor Hunderten von Jahren“, sagte Prof. Gerner, während er dutzende Dias aus dem Königreich im Hochhimalaja zeigt. Vom Einschlag der Bäume, bis zum Richtfest des Gebäudes aus hunderten Streben, Riegeln, Kopf- und Fußbändern, Gefachen und dem Dach aus Holzschindeln, war er an Dorjis Seite. Gerner ist Hochschulprofessor, Buchautor, Gutachter und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Fachwerkstädte e. V. (ADF) und hat selbst eine Lehre zum Zimmerer gemacht. Zimmermeister Dorji beherrscht das Jahrtausende alte Handwerk noch in seiner Ursprünglichkeit. Mit Axt, Handbohrer, Schlagschnur, Schrotsäge, Winkel und Stechbeitel verzimmert er Fachwerkbauten in hoher Qualität. Gerner nennt ihn in Fachbüchern als Beispiel lebendiger Baukunst.
Das Fachwissen des 72-jährigen Professors ist weltweit bekannt und gefragt. Die Dias, die er den 66 Seminarteilnehmern aus ganz Deutschland im Schulungszentrum im hessischen Fulda zeigt, hat er selbst gemacht. Die Länder und Orte, über die er berichtet, bereiste er persönlich. Er erzählt von Zimmererkollegen aus Tibet, Nepal, Südamerika oder der Mongolei. „Sehen Sie, wie wertvoll Handwerk ist“, sagte Gerner mit unverkennbarem Frankfurter Akzent zu den meist freiberuflichen Stadtführern von der Elbe bis zum Bodensee, die sich Ende März in der Propstei Johannesberg eingefunden haben. Im Refektorium, dem einstigen Speisesaal des etwa 1.200 Jahre alten Klosters, hören sie dem Mann aufmerksam zu, der auch „der Fachwerkpapst“ genannt wird.
„Dieses Breitbeil haben mein Großvater und mein Vater noch benutzt“, sagte er und hält das Beil mit dem weit gebogenen Blatt nach oben. Und wäre er nicht im Anzug, sondern in seiner Zimmererkluft mit schwarzer, weit ausgestellter Breitkordhose, weißem Stehbundhemd, schwarzer Weste mit den acht Perlmutknöpfen und einem schwarzen Hut erschienen, könnte dieser Mann mit den kräftigen Händen und dem stolzen geraden Gang sein erlerntes Handwerk auf der Stelle vorführen. Seit dem 17. Jahrhundert und in der fünften Generation arbeiteten die Männer der Familie Gerner nachweisbar als Zimmerer. Sie gehören einer Zunft an, die sich schon im 11.Jahrhundert in religiösen Bruderschaften organisierte. „Im 12. Jahrhundert bekundeten die Zunftordnungen ein geordnetes Lehrlingswesen“, sagte Gerner, der als Markenzeichen einen weißen Kinnbart wie ein Hochseekapitän trägt. „Baurechte und gesellschaftliche Regeln wurden von der Zunft vorgeschrieben, Gesellenbruderschaften und die heutige Zimmererinnung gingen daraus hervor“, erzählte er.
Weit mehr als zwei Millionen Fachwerkhäuser gibt es laut Gerner in Deutschland. Viele sind kunstvoll gebaut, mit Schnitzereien verziert und damit Unikate. „Jede Stadt kann mit Fachwerk werben“, meint er. Laut Angabe des Statistischen Bundesamtes erhöhte sich im Reiseland Deutschland die Übernachtungszahlen in den letzten zehn Jahren um über 40 Millionen. Besucher sind Multiplikatoren, Stadtführer haben alle Hände voll zu tun, den Kulturdurst der Gäste zu stillen. Durch lebendige Stadtführungen könne auch das Fachwerk als Kulturgut positioniert werden, argumentiert Gerner. Ihm selbst wurden bei Stadtführungen oft „magere bis haarsträubende“ und trockene Informationen geboten. Darum rief er mit Vertretern der 127 Mitgliederstädte der ADF vor 17 Jahren die Fachseminare ins Leben. Fast 700 Stadtführer haben diese bereits besucht. Sie werden nach sechs Seminarteilen mit einem Fachwerk-Gästeführerdiplom ausgezeichnet. „Nutzen Sie Fachwerk touristisch als lebendige Freilichtexponate“, riet Gerner zu Recht.
Denn exponierte Bauten, wie das älteste Gasthaus Deutschlands „Zum Riesen“ im fränkischen Miltenberg, gelten als Besuchermagnet. Stadtführerin Silke Bernstein nimmt dort englischsprachige Gäste von den Kreuzfahrtschiffen des Mains in Empfang, führt die Touristen in 90 Minuten durch die Stadt. Die 56-Jährige spricht drei Fremdsprachen. Jetzt lernt sie die Fachwerksprache. „Vor allem die Amerikaner haben immer wieder Fragen über die Fachwerkhäuser“, sagte sie.
Eine aufmerksame Schülerin ist auch die 64-jährige Hertha Darimond. Im nordhessischen Eschwege führt sie seit zehn Jahren Gäste durch ihre Stadt, besuchte bereits 2002 ein Seminar in Fulda und braucht noch zwei Seminarteile bis zum Fach-Diplom. Seit 2009 geht sie in Kluft als „Zimmermann auf die Walz“, richtet ihren Focus auf die Bedeutung von Symbolen und Verzierungen der Fachwerkfassaden. Hunderten Gästen hat sie bereits den Basilisken am Rathaus gezeigt, ein mythisches Mischwesen aus Hahn, Schlange und Drache, dessen Blick versteinern oder töten könne, erzählt Hertha Darimond ihren Kollegen, als sei sie gerade bei einer Stadtführung. Auch Chronogramm, Pilastersäule, Hessenmann und Lebensbaum weiß sie bereits zu lesen. „Der zeigt Mutter Erde, die Jugend, Erwachsene und die reife Generation“, erklärte Gerner seinen Schülern. „Aber was steckt hinter Narrwalen und Herzen?“, fragte er und ließ dutzende Dias durch den Projektor laufen. Dabei zeigte und erklärte er. „Tausende Stadtgeschichten stehen auf den Fachwerkbalken“, so der Professor, „lesen Sie Ihre vor!“. Die Schüler zeichneten auf, schrieben mit. Von morgens halb zehn bis nachmittags um halb fünf. Ein paar kurzen Pausen machte der Referent, dann ging es weiter.
Für Gerner steckt in vielen kleinen Fachwerkhäusern eine ganze Menge Erzählenswertes. Ein kleines Herz stehe für die Göttin Freya und drücke Liebe und Treue aus, sagte er. Es gibt Hinweise auf Berufe, Charaktere und die Ängste der Menschen, die diese Häuser bauen ließen. „Fachwerk kann nicht nur schönes Beiwerk einer Stadtführung sein, sondern der Grund, dass Gäste zu Besuch kommen“, sagte der Professor. Viele Zeichen, Symbole und Bilder gehen auf heidnische Gebräuche und Traditionen zurück. In der Renaissance zeigte man sein Weltbild in umfangreichen Bildprogrammen, die wie Wahlplakate an exponierter Stelle ihren Platz fanden. „Darstellungen zur Abwehr von Dämonen, Neid und Armut waren nie zufällig“, so Gerner.
„Ich sehe meine Stadt jetzt mit anderen Augen“, sagte die 40-jährige Stadtführerin Mary Fischer aus dem thüringischen Bad Langensalza, das für seine Travertin-Gewölbe bekannt ist. Marys Ziel ist das Diplom in Sachen Fachwerk und eine Zertifizierung als Gästeführerin nach den europäischen DIN-Normen. Sie gehört zu einer neuen Generation Stadtführer, die sich als Repräsentanten ihrer Stadt von der Konkurrenz berühmter europäischer Reiseziele nicht mehr schrecken lassen. Mary sagte, sie „ver-führt“ ihre Gäste in verschiedenen Rollenspielen, wandere dabei durch Epochen und nehme alle mit auf die Zeitreise. Zudem saniert zurzeit ihr eigenes Fachwerkhaus aus dem 13. Jahrhundert und staunt über die Handschrift der Zimmerer.
„Kaum ein Beruf hat Stadtbilder so geprägt“, sagte Gerner, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Referats Denkmalpflege der Stadt Frankfurt am Main von 1975 bis 1980 an der Freilegung und Sanierung von mehr als 250 Fachwerkhäusern beteiligt war. Eines der ältesten aus dem Jahr 1291 wurde damals entdeckt. „Im 14. Jahrhundert lebten in Frankfurt etwa 25.000 Einwohner in Fachwerkhäusern“, sagte er. Dem Architekten und Zimmerer Gerner geht bei dem Gedanken daran das Fachwerkherz auf. Und auch für die Stadtführer wird es Dank der Renaissance malerischer Fachwerkfassaden weiterhin neue Geschichten geben, die sie den Gästen „vorlesen“ können.